«Ja, können Sie denn davon leben?»

14. September 2016 um 10.48 Uhr
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Beim Besuch einer Veranstaltung begegnete mir ein IT-Manager aus der öffentlichen Verwaltung. Er erinnerte sich daran, dass ich ihn vor Jahren bei einer grossen öffentlichen IT-Ausschreibung unterstützt hatte und fragte mich «Sie machen immer noch Ausschreibungen? Ja, können Sie denn davon leben?»

Ich war für einen Moment sprachlos und parallel lief dazu ein Film in meinem Kopf ab. Was sollte ich antworten? War das eine Geringschätzung meiner Arbeit oder wollte er bloss provozieren? Sollte ich tatsächlich etwas zu meiner Auftragslage sagen?

Bevor ich antworten konnte, hatte er vermutlich die Provokation erkannt, denn er fügte jovial hinzu: «Wissen Sie, diese Submissionen sind ja wirklich eine Belastung für alle Beteiligten. Viel zu kompliziert, viel zu formalistisch. Eine Belastung für die Volkswirtschaft.»

Inzwischen hatte ich wieder einen klaren Gedanken gefasst und erkannte, dass ich meinem Gesprächspartner für die provokative Frage dankbar sein musste. Meist sind es ja die provokativen Fragen, die eine Erkenntnis auslösen.

Ja, ich kann von der Beratungstätigkeit leben, wie auch einige andere Consultants in der Branche. Der Grund dafür liegt aber nicht darin, dass das öffentliche Beschaffungswesen kompliziert ist. Die Arbeit beginnt nämlich weit vor der Ausschreibung. Wie sieht das aktuelle Applikations-Portfolio aus? Wo haben wir Lücken, was ist nicht mehr zukunftstauglich? Was braucht die Fachabteilung wirklich? Was passt zur IT-Strategie? Was wollen wir überhaupt ausschreiben? Wie gestalten wir die System- und Projektabgrenzung? Was bietet der Markt, was machen vergleichbare Unternehmen und Organisationen?

Dies sind die Fragen, welche Fachabteilungen und IT vor einer Ausschreibung beschäftigen. Denn die Veröffentlichung eines langen Anforderungskatalogs macht noch kein gutes Pflichtenheft, geschweige denn garantiert sie ein gutes Umsetzungsprojekt (siehe dazu auch „Pflichtenheft oder Wunschkatalog“).

IT-Beschaffung im Umfeld von komplexen Informatikprojekten braucht einen interdisziplinären Ansatz aus IT-Architektur, betriebswirtschaftlicher Applikations- und Prozessberatung sowie Kenntnisse des Beschaffungsrechts. Das Submissionswesen ist dabei nur der letzte Schritt, sozusagen die „Pflicht“. Die Kür ist weit umfassender – und das macht die Arbeit so spannend.

 

Portrait RFu 120x120Roland Füllemann, Chefredaktor von referenzportal.ch, hat 20 Jahre Erfahrung mit Informatikprojekten im ERP-Umfeld. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Projektinitialisierung, Ausschreibungen für die öffentliche Verwaltung und Projektmanagement. Er ist Mitglied der Alumni Wirtschaftsinformatik Universität Zürich und nebenberuflich Dozent für Informatik an der HWZ Hochschule für Wirtschaft, Zürich. Vorstudien und Architekturplanung für HR-Systeme bietet er unter dem Dach der example consulting an.

 

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