Pflichtenheft oder Wunschkatalog?

7. Februar 2014 um 16.13 Uhr
0

bigstock-Stack-Of-Binders-351746

„In ein Pflichtenheft schreibt man möglichst viele Pflichten, damit die Anbieter viel liefern müssen“. Zu diesem Schluss kann leicht kommen, wer eine Ausschreibung in der öffentlichen Verwaltung durchführt. Schliesslich bewerben sich X Firmen für einen Auftrag beim Staat und für die Millionenbudgets darf man ja auch etwas erwarten. Mutmasslich kalkulieren die Anbieter bei den Grossprojekten Reserven ein, sofern sie nicht so oder so genug an den öffentlichen Aufträgen verdienen.

Auch wer weniger angriffig ans Werk geht, ist als Projektleiter schnell verleitet, einen extralangen Katalog der Anforderungen aufzustellen. Sieben verschiedene Fachabteilungen wollen interviewt sein, bevor die Software beschafft wird – jede hat ihre eigene Weltsicht und Wünsche. Als Projektleiter ist es da schwierig „Nein“ zu sagen, zumal man ja nicht in allen Disziplinen tiefe Fachkenntnisse haben kann und im Grund mehr ein Organisator oder Koordinator des Ganzen ist.

Jedenfalls ist der interne Widerstand geringer – und man kann ja eigentlich nichts falsch machen – wenn alle Anforderungen minutiös aufgelistet werden. Selbstverständlich soll die Software ausbaufähig und zukunftstauglich sein, die Architektur- und Sicherheitsstandards der Informatikabteilung erfüllen, die Anforderungen von Revision und Informatikstrategieorganen, und so weiter und so fort…

Doch ein allzu dicker Anforderungskatalog birgt gleich mehrere Risiken. Übersichtlichkeit und Prioritätensetzung des Projekts leiden. Unter Umständen muss die Ausschreibung abgebrochen werden, weil sich kein Anbieter findet, der sich das Projekt zutraut. Die schlechteste Variante für den Projektleiter aber ist, wenn das Projekt zustande kommt: ein zu komplexes Projekt – eine Bürde, die für Auftraggeber und Projektleiter zum Albtraum wird.

Projekte müssen mundgerecht sein
Ein Software-Anforderungskatalog ist nicht zu verwechseln mit dem Projektumfang, welcher sinnvollerweise umzusetzen ist. Die Anforderungen an die Software aufzunehmen ist das eine – einen erfolgversprechenden Projektrahmen abzustecken, ein ganz anderes Ziel. In einer Ausschreibung hat es durchaus Platz für beides, aber es sind eben unterschiedliche Dokumente:

  • der Anforderungskatalog listet minutiös die gewünschten Eigenschaften der Software auf.
  • der Project-Scope im Pflichtenheft grenzt ein, was im aktuellen Projekt umgesetzt wird.

Referenzen sind besser als Mutmassungen
Welche Produkte gibt es auf dem Markt? Was können sie? Was haben andere damit gemacht?
Diese simplen Fragen sind sehr aufschlussreich. Aber eben auch sehr schwer zu beantworten – die Recherche ist aufwendig. Ganz offensichtlich herrscht ein Mangel an verfügbaren Informationen.
In 24 Kantonen, 6 grossen Städten gibt es bestimmt eine Baubehörde, ein Sozialdepartement, einen Personaldienst oder eine Finanzabteilung, welche bereits eine gute Lösung implementiert hat. Leider ist es schwierig, an diese Informationen heranzukommen. Bis heute. Die Referenzdatenbank auf referenzportal.ch ist ein grosser Schritt, der diese Informationssuche vereinfacht.

Der Dialog ist erlaubt – zum richtigen Zeitpunkt
Solange kein formelles Beschaffungsverfahren angestossen ist, können Informationen über Software-Lösungen unkompliziert beschafft werden. Referenzbesuche bei ähnlichen Organisationen bieten sich als ideale Informationsquelle an, liefern Erfahrungen und Einschätzungen aus der Praxis. Selbst die Anbieter dürfen bei solchen Anlässen dabei sein – selbstredend, dass Sie als Projektleiter nicht bereits vor der öffentlichen Ausschreibung einen Pakt mit möglichen Lieferanten schmieden.

Zusammenfassend: Recherchieren Sie. Machen Sie eine Marktanalyse. Machen Sie sich schlau über Referenzprozesse und den Standard-Funktionsumfang von Software. Verzichten Sie auf den Wunschkatalog – machen Sie stattdessen ein Pflichtenheft, das den Namen verdient.

Roland Füllemann, Geschäftsführer der example consulting gmbh, hat 20 Jahre Erfahrung mit Informatikprojekten im ERP-Umfeld. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Projektinitialisierung, Ausschreibungen für die öffentliche Verwaltung und Projektmanagement.

Artikel auf Social Media Platformen teilen

In dieser Serie

Webinar «Cloud Beschaffungen» – Praxisfragen und Erfahrungen

Die IT-Beschaffung «aus der Cloud» ist zunehmend auch ein Thema für Verwaltungen und Betriebe der öffentlichen Hand. Bisher haben Bedenken wegen Datenschutz und IT-Sicherheit die Akzeptanz von Cloud-Lösungen im öffentlichen Umfeld behindert. Doch die Marktveränderungen bei «Software as a Service» und «Platform as a Service» Lösungen wirken sich auf das IT-Beschaffungswesen aus. Weiterlesen ›

Weiterbildungstag «Cloud Beschaffungen» 2021

Die IT-Beschaffung «aus der Cloud» wird zunehmend auch ein Thema für Verwaltungen und Betriebe der öffentlichen Hand. Disruptiven Charakter hat dabei insbesondere die Nutzung von Software aus der Cloud (SaaS). Am Weiterbildungstag der Universität Bern vom 15. Januar 2021 berichten Experten über Praxiserfahrungen und beleuchten organisatorische und rechtliche Gesichtspunkte. Weiterlesen ›

Submissionen: neue Möglichkeiten mit dem «Dialog» unter dem revidierten Beschaffungsrecht

Mit dem revidierten Beschaffungsrecht, welches von den Kantonen ab 2021 in Kraft gesetzt wird, kommen neue Instrumente und Möglichkeiten. Vor allem der unter dem Bundesrecht bereits heute mögliche «Dialog» stösst  bei kantonalen Beschaffungsstellen auf reges Interesse. Weiterlesen ›

Diesen Artikel kommentieren

Wir sind sehr an einer offenen Diskussion interessiert, behalten uns aber vor, beleidigende Kommentare sowie solche, die offensichtlich zwecks Suchmaschinenoptimierung abgegeben werden, zu editieren oder zu löschen. Mehr dazu in unseren Kommentarregeln.